Sämtliche Gesellschaftsschichten haben wir gerade durchschritten.
Drehen wir die Uhr um gut drei Stunden zurück. Anna und ich sitzen schwer
bepackt mit unseren großen Rucksäcken im ‚Comsum‘, dem Bahnhofsimbiss in der
Pune Mainstation. Sehnsüchtig blicke ich auf die vollautomatische Kaffemaschine
und das nebenan angebrachte Preisschild, das ‚Cappuccino‘ offeriert.
„Today no coffee available“ lautet die ernüchternde Aussage
des Verkäufers, sie lässt mich ein wenig enttäuscht auf zuckersüßen Nesscafé
ausweichen. Aber was solls‘, Hauptsache ein Geschmack. Anna und ich sind
mächtig stolz auf unser Ticket. Als wir Anfang der Woche noch immer keines
hatten, war die Warteliste natürlich schon ins unendliche gestiegen und die
Aussicht auf eine Zugreise trüb wie die Luft über Pune während der Rushhour. Warum
sind wir eigentlich so naiv? Mittlerweile wissen wir, dass längere Fahrten
schon Wochen davor gebucht werden müssen. Nach zwanzig Minuten Anstehen sagt
uns das auch der Officer. Wir müssen auf das Zwischenseminar! Wir klopfen kühn
an der Tür des Chief Reservation Administrators und berichten ihm unsere
Situation. Ernste Blicke unsererseits, eine Unterschrift seinerseits und 5
Minuten später halten wir unser Ticket in den Händen.
Ich bin sicher, dass der Fakt, dass wir aus einem anderen Land kommen eine
entscheidende Rolle spielte. Es ist ein weitläufiges Thema wie der Inder mit
Ausländern umgeht, das ich jetzt hier nicht komplett ausführen möchte. Es sei
nur so viel gesagt, dass wir uns in Deutschland von den Menschen hier sicher
eine gehörige Scheibe abschneiden können was Hilfsbereitschaft und
Gastfreundlichkeit betrifft.
Das Seminar wird am Montag in Udaipur, Rajastan beginnen. Doch da wir eh in den
Norden mussten war noch ein Abstecher für Ahmedabad in Gujarat drin, der uns
zwei Tage zu unseren Kollegen im CEE Hauptquartier ermöglichen würde. Dort
hinbringen soll uns der Ajmer-Express. Auf den warten wir nun im „Comsum“.
Die Tickets sind nicht confirmed, nicht bestätigt. Wir
hängen noch auf der Warteliste. Das wird uns nun 5 Minuten vor Einfahrt bewusst;
wir haben keine Plätze. Der wild gestikulierende Schaffner macht uns wenig
Hoffnung. Trotzallem entscheiden wir uns nach langem Hin und Her den Zug in der
Sleeper-Class zu besteigen. Das ist die günstigste Schlafklasse in der wir noch
auf freie Pritschen hoffen. Schon in der Tür wird uns das Ausmaß der Warnung „it’ll
be crowded“ bewusst. Man drängelt, schubst und schiebt sich gegenseitig in der
Gegend herum. Chai-Verkäufer schreien „Chai“, wollen verkaufen. Ein Mann drückt
eine Kühlbox mit Eis durch den Gang. Es ist kalt im Sleeper, wo es keine
Scheiben gibt. Der Zug beginnt zu Rollen. Anna die noch an der offenen Tür
steht ruft mir zu, ich bin derweil schon ins Abteil gedrängt. Wir fragen uns
schreiend ob wir uns das wirklich antun wollen oder ob wir noch abspringen
sollen, doch als ich Anna erreiche ist der Zug schon zu schnell. Gnadenlos
überfüllt ist es, alle stehen im Gang und wollen durch. Alle bleiben an unseren
Rucksäcken hängen. Kinder wuseln rum, Alte schlafen auf den Liegen. Als wir im
Durchgang zum nächsten Waggon stehen kommt uns ein einbeiniger Bettler entgegen,
dichtgefolgt von einem Blinden. Wir gehen weiter, obwohl uns der Kontrolleur
abermals versichert keine Betten zu haben. Trotzdessen dass wir auf der
Warteliste stehen besitzen wir ein bezahltes Ticket der 3-AC Klasse, weshalb
man uns nicht aus dem Zug werfen kann. 3-AC ist die dritte Klasse. Hier sind
die Fenster verglast und es werden Leintücher und Decken zum Schlafen
bereitgestellt. Immer noch relativ günstig bucht man am besten hier seine
Reservierung, vor allem wenn man vorhat in den kühlen Norden zu fahren.
Als wir die Türe hinter der
Sleeper-Class schließen nimmt der Geräuschpegel unmittelbar ab.
Weiterhin kommen im Sekundentackt „Wallas“ vorbei die Malbücher, Süßigkeiten
oder Zauberwürfel verkaufen wollen und im Gang ist es eng, doch weitaus komfortabler.
Es wird deutlich, dass hier nicht die gleichen Menschen reisen als die, die wir
noch einige Minuten vorher um uns hatten. Die Passagiere in 3-AC sind nicht auf
das Rudimentärste angewiesen, können sich einen gewissen Komfort leisten. Hier
finden wir ein nettes älteres Ehepaar das uns anbietet für einige Zeit sitzen
zu können, bis wir etwas gefunden haben. Die Hoffnung auf eine Pritsche habe
ich inzwischen aufgegeben. Ich sehe uns die Nacht auf unseren Rucksäcken
sitzend im Gang neben den Toiletten verbringen. Alles Abenteuer. Ich habe das
Gefühl Anna findet Abenteuer nicht so toll. Aber auch ich dachte ursprünglich
an ein paar Stunden Schlaf. Ein anderer „Wartender“ den wir schon einige Zeit
vorher kennengelernt hatten erzählt mir fröhlich, sein Ticket sei bestätigt
worden und bringt mich anschließend zum Conducter. Hoffnung? Vorsichtig frage
ich, ob irgendwo eine Bank oder eine Pritsche übrig ist, als er uns zu zwei
Betten in der 2-AC dirigiert. Die nächsthöhere Klasse. Er bietet uns an das
Ticket up zu graden, also gegen Aufpreis dort zu schlafen. Wir zogen diesen der
Nacht im Gang schlussendlich vor und befinden uns nun somit in einem
komfortablen Abteil. Verkäufer schaffen es bis hierher meist nicht. Es gibt
Leselicht, breite Pritschen und Strom. Das Geld das wir hier für die Fahrt
bezahlen ist mindestens das Dreifache das wir im Sleeper bezahlt hätten,
dementsprechend wohlhabender sind auch die Menschen hier. Im Sleeper oder 3-AC
ist es interessanter und irgendwie auch ungezwungener, doch diesmal ging es
eben nicht anders.
Es ist ein eigenartiges Gefühl wenn ich mir überlege, dass,
je weiter man sich Richtung Zug-Ende denkt die Personendichte enorm zu-, aber
dementsprechend Komfort und auch Preis enorm abnehmen. Ganz am Ende im
General-Compartment, wo es überhaupt keiner Reservierung bedarf und das Ticket
nicht mehr als ein paar Rupien kostet, werden die Menschen auf den
Gepäckablagen sitzen und sich die Bank zu fünf oder sechst teilen. - Indien in
einem Zug.
Meine Vorläufige Route sieht so aus, dass ich morgen in Ahmedabad ankomme, am
Sonntag zum achttägigen Seminar nach Udaipur fahre. Danach nehme ich den Bus
nach Jaisalmer in der Thar Wüste und fliege am 2. Feb. von Jaipur nach Mumbai,
zurück nach Maharashtra.